Legasthenie

Was Eltern tun können (3)

An dieser Stelle möchte ich mit einer kleinen sich jedes Jahr wiederholenden Geschichte aus meinem Leben beginnen.

Es ist Juni. Der letzte Urlaub liegt schon länger zurück und der nächste Urlaub ist erst Mitte Juli. Es geht mir gut, meine Arbeit macht mir Spaß, allerdings finde ich die Wochenenden nicht mehr ganz so erholsam wie noch einen Monat zuvor. Mein Schlafbedürfnis ist erhöht, mein Unwille, abends rechtzeitig schlafen zu gehen steigt ebenfalls.

Es ist Mitte Juni. Ich ertappe mich dabei, keine allzugroße Lust auf Arbeit zu haben. Wenn ich erstmal angefangen habe, macht es jedoch wieder Spaß, schließlich mag ich meine Arbeit und irgendwie hatte ich das mysteriöser Weise für fünf Minuten vergessen. Unter der Woche wollte ich abends mit einer Freundin telefonieren, plötzlich ist Samstag. Ich war einfach nicht dazu gekommen.

Es ist Ende Juni/Anfang Juli. Ich bin sehr oft müde und reizbarer. Ich habe keine Lust, zu arbeiten. Wenn mich jemand fragen würde, was ich beruflich gerne machen würde, würde ich leidenschaftlich von meiner aktuellen Arbeit erzählen – nur will ich da gerade einfach nicht hin. Mein Freund erzählt mir etwas beim Abendessen und während er spricht, driften meine Gedanken ab und ich ertappe mich plötzlich dabei, dass ich nicht weiß, was er gesagt hat. Ich frage beschämt nach und entschuldige mich dafür und wenn er es nochmal erzählt, muss ich mich wahnsinnig konzentrieren, um nicht wieder wegzuträumen, obwohl mich wirklich interessiert, was er zu sagen hat. Ich bin mittlerweile vergesslich geworden, mir fallen häufig Dinge runter oder gehen mir sogar kaputt. Ich schlafe unruhig und wenig. Ich bin urlaubsreif.

Warum erzähle ich das? Urlaubsreif kennt vermutlich nahezu jeder: diese Tage vor der langersehnten Freizeit, in denen man sich fragt, ob man frühzeitig dement wird. Das passiert, wenn das System überlastet ist, wenn der Ausgleich fehlt. Unsere Konzentration und Merkfähigkeit nehmen ab, das Stresslevel steigt. Wenn Sie als Eltern sich nun an dieses Gefühl erinnert haben und sich jetzt vorstellen, dass Sie Ihr Partner oder Ihr Vorgesetzer anschreit, weil Sie schon wieder etwas vergessen haben, obwohl Sie es sich doch so fest vorgenommen hatten, daran zu denken, wie fühlen Sie sich dann? Bockig? Den Tränen nah? Verunsichert? Beschämt? Machtlos? Hilflos?

Das sind Gefühle, die Ihr Kind höchstwahrscheinlich nur zu gut kennt. Es wollte sich wirklich merken, dass man „Biene“ mit „ie“ schreibt und es hat wieder nicht geklappt. Legasthenie-Therapie ist eine Sache. Aber es muss auch der Druck raus. Niemand lernt gut unter Stress, niemand funktioniert gut, wenn er überfordert ist oder sogar Angst hat. Und wir alle haben diese Erfahrung schon mal gemacht. Stellen Sie sich vor, Sie wären das ganze Jahr über urlaubsreif. Was würden Sie sich wünschen, wenn Urlaub gerade nicht drin ist? Was würde sich Ihr Kind wünschen?

Ich würde mir eine Umarmung wünschen. Ich würde gerne hören, dass ich absolut okay bin, so wie ich bin – sogar, wenn ich „bine“ schreibe. Ich würde mich freuen, wenn man mir sagt, dass man an mich glaubt und dass wir das gemeinsam schaffen und vor allem brauche ich Verständnis. Denn vielleicht bin ich in dem Moment gar nicht in der Lage, Verständnis für mich selbst aufzubringen. Sich selbst so zu lieben und zu akzeptieren wie man in dem Moment jetzt gerade ist, öffnet Türen. Unterstützen Sie Ihr Kind dabei, sich selbst zu lieben und zu akzeptieren und Sie werden überrascht sein, was Ihr Kind plötzlich alles kann.